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DP Éric Gautier: real und irreal bei Alain Resnais’ IHR WERDET EUCH NOCH WUNDERN

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«Man weiß nicht mehr, ob man sich in der Realzeit oder in einer Vorstellungswelt befindet.»

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IHR WERDET EUCH NOCH WUNDERN (Originaltitel: VOUS N’AVEZ ENCORE RIEN VU): Diese vor Greenscreen gedrehte Szene im Bahnhofsbuffet mit Mathieu Amalric und Pierre Arditi (r.) – auf einem Tablet-Computer visualisiert in Kombination mit dem Bild der Videoausspiegelung – war erst im Halbdunkel und kühl (mit 1/4 CTB) gehalten, sie sollte nur von den Signalen des Bahnhofs hinter den Fenstern erhellt wirken. Nach Einschalten des Lichts ist die Farbabstimmung neutral. Foto: F Comme Film.

Éric Gautier, AFC, fotografierte den neuesten Film des mit 84 Jahren gar nicht filmmüden Alain Resnais und erzählt, wie das originelle Bildkonzept umgesetzt wurde. Unter anderem mit Lichteffekten wie im Theater. Aufnahmematerial war  Kodak 5219, die Kamera war von Panavision und anamorphotischen Objektiven der E-Serie bestückt.

Ein Film einerseits wie ein Märchen, andererseits wie von einem anderen Stern?

Éric Gautier: Bis zum Ende des Schnitts und sogar noch während der Trickarbeiten war nicht klar, was für ein Film es werden würde. Alain Resnais’ Ausgangsmaterial waren ja mehrere Stücke von Jean Anouilh, einem heute etwas in Vergessenheit geratenen Autoren. Insbesondere stützt er sich auf Eurydice, ein recht düsteres Stück, heftig in den Gefühlen, die darin zum Ausdruck kommen zum Leben, zur Unmöglichkeit der Reinheit und zur Faszination eines Todes in Liebe. Resnais hat sich hier eine sehr originelle Grundanordnung aus­gedacht: Die Schauspieler sind  an einem nicht sehr ­realistischen Ort versammelt und schauen der Videoaufzeichnung eines Stückes zu, das eine junge Theatertruppe spielt. Sie haben das Stück auch einmal gespielt und erinnern sich an ihre Rolle – einige von ihnen haben die gleiche Rolle gespielt –, sie erleben die Rolle erneut und werden schließlich wieder die Figur, die sie waren. Dann tauchen, hinter ihnen eingeblendet, irreale Bilder auf, Teile des Dekors in ihrer Erinnerung oder in ihrer Fantasie. Schon bei COEURS (herzen, 2006) und LES HERBES FOLLES (VORSICHT SEHNSUCHT,  2006, Resnais vorigen Filmen, Anm. d. Red.) war die Erzählweise sehr frei, aber hier geht das noch viel weiter. Man weiß gar nicht mehr, ob man sich in einer Realzeit oder rein in einer Vorstellungswelt befindet. Resnais hat hierzu einen grandiosen, bewusst theatralischen Ort mit einer großen Kuppel und sieben Türen entworfen, die alle zum Imaginären und zu den Erinnerungen führen, ein bisschen so wie Schlupfwinkel fürs Gedächtnis. Die großartige Idee bei diesem Film war, sehr gewichtige Rollen Sabine Azéma und Pierre Arditi zu geben, Rollen, die überhaupt nicht mehr ihrem Alter entsprechen. Also eine Konvention, die im Theater funktionieren könnte, sich hier aber rechtfertigt durch den Rückbezug auf eine Vergangenheit, die zur Gegenwart wird.

Wie haben Sie mit Alain Resnais gearbeitet, um den «Ton» des Films zu finden?

Éric Gautier: Resnais geht schwere Sujets gerne auf leichte Art an und umgekehrt. Solche Sprünge und Gegensätze machen die Eleganz seiner Filme aus. Er hat mich immer angestoßen, in meiner Arbeit noch weiter in dieser Richtung zu gehen, denn er liebt das Mehrdeutige, Widersprüchliche und nur Behauptete. Er hat mich oft ermutigt, sehr helle Stimmungen zu schaffen, mit Gegenlichtszenen, die stark in Richtung Glamour ­gehen, und vor allem zu einem ausgeprägten, sichtbaren Effektlicht. Man hält Resnais für ­einen Kopfmenschen, der alles vorbereitet hat und lange vorher schon weiß, was er will, doch das ist keineswegs so!
Er denkt sich eine Grundanordnung aus, und dann tastet er sich voran, erfindet etwas sehr pragmatisch aus der Situation heraus. Er lässt sich dabei gerne überraschen und riskiert auch etwas. Er mag das Experiment und treibt Ideen plötzlich ganz ­anders weiter, als man es vom Anfang her erwartete. Er ist immer für Über­raschungen gut. Jacques Saulnier, der Szenenbildner, hatte das Hauptmotiv anfangs sehr groß, sehr neu und ganz weiß gebaut. Da sagte Alain zu Jacques: »Das wirst du doch noch ein bisschen patinieren…« Aber Jacques entgegegnete ihm: »Nein, das muss nach Dekor, nach ganz neu aussehen!« Ich fand, dass Jacques Recht hatte. Der Film war ja eine Hommage ans Theater, und der Autor des Stückes, der diesen kleinen, etwas über­dimensionierten Palast bestellt, wollte ihn in der Art eines Theaterdekors. Ich wusste, dass Alain Guitry sehr mag. Er hatte mir jedoch für den Moment, wo die »Projektion« beginnt, vorgeschlagen, dass der Saal dunkel wird; aber ich dachte, dass das wenig Wirkung haben würde, denn schon in seinen vorherigen Filmen mochte Alain keine zu gedeckten Bilder.

Lambert Wilson und Anne Consigny in IHR WERDET EUCH NOCH WUNDERN. Foto: F Comme Film.

Lambert Wilson und Anne Consigny. Foto: F Comme Film.

Glücklicherweise hatte die Produktion es uns ermöglicht, in der Dekoration und mit einigen der Schauspieler Tests zu machen. Und als wir dann diese Tests drehten, sagte Alain zu mir, dass die Wände zu hell seien. Also habe ich soviel Licht wie möglich von den Wänden abgehalten. Bei der Lichtbestimmung der Tests habe ich die Helligkeit der Hintergründe noch ein bisschen abgesenkt in dem Gedanken, dass er das sowieso übertrieben finden würde. Aber in der Projektion war es ihm immer noch zu hell. Er sagte zu mir: «Stellen wir uns vor, wir sind in DR. MABUSE von Fritz Lang, um uns herum Geister und Gespenster.»
Da habe ich verstanden, wie der Film sein sollte. Es musste also die Dekoration umgestrichen werden, um sie dunkler zu bekommen, denn ­anders wäre unmöglich gewesen, bei ­jeder Szene den Hintergrund unter Kontrolle zu haben. Der Film fängt ja an mit einem Zitat aus NOSFERATU von Murnau: «Als er über die Brücke gekommen war, kamen ihm Gespenster entgegen.» Wir sind in dem Film ganz in der Geister- und Gespensterwelt, ganz tief im Imaginären. Es ist ganz anders als bei den vorigen Filmen Resnais’, das ist typisch für ihn, er bringt einen immer aus der Bahn! Erst im letzten Moment, kurz vor Drehbeginn, habe ich verstanden, auf welchem Register zu spielen war: im Dunkeln, aber theatralisch. Auch mit Lichtwechseln musste gespielt werden. Ab einem bestimmten Moment ist das Dunkle dann gar nicht mehr so stark. Denn es gibt eine fließende ­Bewegung von der Gegenwart hin zur Vergangenheit.  Der echte Dekor erscheint und die Erinnerungen verschmelzen mit den eingeblendeten Orten, an denen die Schauspieler einmal das Stück von Anouilh gespielt haben.

Die vielen Einblendungen mussten ja ­gesteuert und kontrolliert werden…

Éric Gautier: Einen großen Teil des Films haben wir vor Greenscreen gedreht, um darauf später den imaginären Dekor einblenden zu können. Auch alle Bilder von außerhalb des großen Saals wurden vor Greenscreen gedreht. Sie entstanden unter Verwendung realer fotografierter Elemente wie etwa Tapeten, Fußböden oder Fenster und wurden dann bei Def2shoot von Frédéric Moreau und seinem Team neu zusammengesetzt. Die Elemente sind real, aber das Endergebnis sieht von Anfang an künstlich aus. Resnais wollte, dass diese Bilder so wirken wie Erinnerungsfetzen, die einem kommen, aber mit aller Ungenauigkeit, die das an sich hat.
Das ist auch der Grund, warum die imaginären Orte sich ständig verändern. Bei den Einblendungen stand ich vor einem Problem: Wie soll man es machen, damit die Einblendungen hinten als solche erscheinen und die Schauspieler im Vordergrund so wirken, als spielten sie vor einem Dekor, der nicht passt? Gleichzeitig sollte es aber visuell reich und nicht ungeschickt aussehen.

Wie sind Sie hier konkret vorgegangen?

Éric Gautier: Normalerweise kennt man, wenn man vor Greenscreen dreht, die Bilder, die eingeblendet werden, und kann sehen, wie sich das mit dem realen Set verbindet. Bei diesem Film wusste man überhaupt nicht, was eingeblendet werden würde. Alain ließ einen in Bezug auf seine endgültigen Absichten bewusst im Unbestimmten. Für mich, die Darsteller und auch für Alain selbst war es jedoch wichtig, eine Vorstellung, sei Sie auch vage, davon zu haben, was im Hintergrund stattfinden würde. Ich schlug Matthieu Beutter, dem Szenenbildner-Assistenten, vor, stets bei uns am Set zu sein und auf seinem an einen größeren Computer angeschlossenen Tablet-Computer zu skizzieren, was es im Hintergrund für Perspektiven und Proportionen geben würde und uns eventuell auch bestimmte Requisiten oder Möbel anzubieten. Diese Skizzen wurden im Hintergrund auf einem Kontrollmonitor mit dem Bild der Videoausspiegelung meiner Kamera kombiniert. Wir begannen Späße zu machen und sagten zum Beispiel: «Seht mal, ist für diese Einstellung das klitzekleine Zimmer nicht zu groß und disproportioniert geworden?» Resnais hatte auch eine Lust daran, Elemente auftauchen und verschwinden zu lassen wie bei Méliès. Das war sehr verspielt.

Arbeit vor Greenscreen, hier mit Mathieu Amalric und Pierre Arditi (r.). Foto: F Comme Film.

Arbeit vor Greenscreen, hier mit Mathieu Amalric und Pierre Arditi (r.). Foto: F Comme Film.

Effekte wie im Theater, Auf- und Abtritte wie auf einer Bühne?

Éric Gautier: Ja, als regelrechtes, absichtlich gewähltes Inszenierungsmittel. Resnais arbeitet hier bewusst mit dem Künstlichen, mit einer stilisierten Form. Er gibt eine Richtung vor und lässt den jedem die totale Interpretationsfreiheit.

Die Highlights wirken leicht gesoftet. Haben Sie mit Filtern gearbeitet?

Éric Gautier: Normalerweise benutze ich am liebsten etwas empfindlicheres Filmmaterial, das naturgemäß ein bisschen weniger gut auflöst. Ich mag es nicht so sehr, wenn das Bild zu gestochen ist. Manchmal arbeite ich bei Großaufnahmen mit leichter Diffusion. Resnais mag sehr weiche Bilder, weil sie weniger realistisch sind und mehr träumen lassen. Daher habe ich verschiedene Typen von Diffusionsfiltern kombiniert, aber solche schwachen Grades. Dieser Film von Resnais ist übrigens viel kon­trast­reicher als die Filme davor, das Licht auf den Gesichtern ist härter und tragischer.

DP Éric Gautier, Schärfenassistentin  Fabienne Octobre und Alain Resnais beim Dreh. Arnaud Borrel/F Comme Film.

DP Éric Gautier, Schärfenassistentin
Fabienne Octobre und Alain Resnais beim Dreh.
Arnaud Borrel/F Comme Film.

Sie hatten sich für «echtes», anamorphotisches Cinemascope entschieden. Warum?

Éric Gautier: Das «echte» Scope schien mir wie selbstverständlich das richtige zu sein, und es war auch für Alain und die Produktion das Format, das sich anbot. Es wäre für mich leichter gewesenn, in Super-35 sphärisch in 1:2,35 zu drehen, so wie bei LES HERBES FOLLES, den ich «flacher», mit weniger Tiefe wollte, das echte Scope hätte mir da eine zu ästhetisierende Seite mit sich gebracht.
Jetzt bei IHR WERDET EUCH NOCH WUNDERN hingegen war es meine Absicht, den Dekor und die Schauspieler in der ganzen Fülle zu transportieren, im echten Cinemascope mit seiner ganz besonderen Bildtiefe. Zum Beispiel filmt die Kamera einmal Pierre Arditi, als er mit Blick nach vorne seinen Text zu sprechen anfängt, und man spürt sehr gut in der Tiefe hinter ihm die Präsenz von Mathieu Amalric, der den Kopf ganz leicht hebt und ihm einen Blick zuwirft. Er ist hinten im Halbschatten und unscharf, und doch hat er eine unglaubliche Präsenz.

Interview: Brigitte Barbier

Und hier noch der Trailer:

 

VOUS N’AVEZ ENCORE RIEN VU – IHR WERDET EUCH NOCH WUNDERN

Regie: Alain Resnais
Bild: Éric Gautier, AFC
Szenenbild: Jacques Saulnier
Kostümbild: Jackie Budin
Originalton: Jean-Pierre Duret, Gérard Hardy, Gérard Lamps
Licht: François Berroir
Kamerabühne: Gérard Buffard
Musik: Mark Snow
Montage: Hervé de Luz
Postproduktion: Digimage, Montrouge (FR)
VFX: Def2shoot, Montrouge (FR)
Lichtbestimmung: Isabelle Julien

Darsteller: Sabine Azéma, Pierre Arditi, Mathieu Amalric, Jean-Noël Bronté, Anne Consigny, Michel Piccoli, Lambert Wilson und viele andere

Produktion: F Comme Film, Paris (FR)
Aufnahmeformat: 35 mm, 1:2,35, Farbe
Negativmaterial: Kodak Vision3 5219
Vorführformat: 35 mm/DCP, 1:2,35, Farbe
Länge: 115 min
Weltvertrieb: Studiocanal
Verleih:  Studiocanal (FR), Alamode Film (DE)
Kinostart: 26.9.2012 (FR), 6.6.2013 (DE, AT)


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